Szenisches

Der Keks

 

KELLNER Bittesehr — Ihr Café.

 

GAST Hallo — da liegt ein Keks neben meiner Tasse. Diesen Keks habe ich nicht bestellt.

 

KELLNER Der ist gratis.

 

GAST Ich habe nicht gefragt, was der kostet, ich habe lediglich gesagt, dass ich keinen Keks bestellt habe.

 

KELLNER Wir servieren immer einen Keks mit dem Café.

 

GAST Wie kommen Sie dazu, mir einen unbestellten Keks auf die Untertasse zu legen?

 

KELLNER Soll ich den Keks wieder mitnehmen?

 

GAST Hören Sie mal — wenn Sie mir eine Suppe servieren, in der sich ein Haar befindet, glauben Sie, dass Sie das Problem dadurch lösen, dass Sie mich fragen, ob Sie Ihr ausgefallenes Haar wieder mitnehmen sollen?

 

KELLNER Ich habe Ihnen aber keine Suppe serviert, sondern einen Café. Und der wird heutzutage fast überall mit einem Keks serviert.

 

GAST Überall?

 

KELLNER Überall in öffentlichen Gaststatten!

 

GAST Auch auf Island? Auf Helgoland? In Brasilien? Auf dem Matterhorn?

 

KELLNER Woher soll ich das wissen? Vermutlich ja. Café, Latte, Cappuccino, Espresso — immer mit Keks.

 

GAST Und warum?

 

KELLNER Das hat sich so eingebürgert, die Kekse kosten nicht viel, also lege ich den Leuten einen Keks dazu!!

 

GAST Sie kosten nicht viel?

 

KELLNER Nein, ein paar Cent.

 

GAST Sie legen mir also ungefragt einen wahrscheinlich minderwertigen Billigkeks auf meine Untertasse.

 

KELLNER Aber er ist doch geschenkt.

 

GAST Wollen Sie mir weismachen, dass dieser Keks, so billig er sein mag, nicht Teil Ihrer Gesamtkalkulation ist? Dieser unbestellte Keks muss also von mir mitbezahlt werden, auch wenn ich ihn nicht verzehre.

 

KELLNER Sie sind der erste, der sich beschwert. Die meisten essen ihren Keks einfach auf. Manche stecken ihn sogar ein, wahrscheinlich als Notration. Und wer absolut keine Kekse mag, lässt ihn einfach liegen.

 

GAST Und was machen Sie mit dem liegengelassenen Keks?

 

KELLNER Den. kriegt der nächste Kunde, selbstverständlich nur, wenn er nicht irgendwie verschmutzt ist und sich noch in seiner ungeöffneten Originalverpackung befindet.

 

GAST Ah ja - die hässliche Plastikverpackung, in die der Keks symbiotisch eingeschweißt ist, aus der man ihn umständlich herausfummeln muss, woraufhin dann die aufgerissene Plastikfolie mit den Restkrümeln vom Wind auf die Erde geweht wird, wo die Krümel dann Tauben und anderes Ungeziefer anlocken, falls die sich nicht gleich auf meinen gerade ausgepackten Keks stürzen, ihn mir flügelschlagend mundrauben und dabei meinen Café mit Straßenstaub, mit bakterien- und milbenverseuchten Federn oder gar mit Exkrementen verunreinigen und dadurch ungenießbar machen. Und selbst wenn es mir in dieser Apokalypse gelingen sollte, meinen Widerwillen zu überwinden, den Keks zum Munde zu führen und ein Stück davon abzubeißen, was wäre das Ergebnis: ein Mund voller pappiger und völlig geschmackloser Krümel, die so trocken sind wie ein Teelöffel voll Sand aus der Sahara, so dass sie einem unter der Gefahr des Erstickungstodes sogar in die Luftröhre gelangen können.

 

KELLNER Aber man kann den Keks ja in den Café tunken.

 

GAST Nein!!! Dazu bin ich auf gar keinen Fall bereit! Ich verabscheue kaum etwas mehr als in warmer Brühe aufgeweichtes Krümelgebäck; ja, wenn es noch eine Madeleine wäre, eine Madeleine zum Lindenblütentee...

 

KELLNER Haben wir nicht. Außerdem haben Sie Café bestellt.

 

GAST Das war eine literarische Anspielung. Madeleine zum Lindenblütentee? Na?

 

KELLNER Ja, ich weiß jetzt nicht so recht.

 

GAST Madeleine zum Lindenblütentee!!??

 

KELLNER Wir haben nur schwarzen Tee oder Pfefferminz.

 

GAST Proust! A la recherche tu temps perdu. Proust!!

 

KELLNER Prost. Möchten Sie lieber ein Bier?

 

GAST Ich möchte einen Café trinken; und ich dachte, dass ich diesem Wunsch deutlichsten Ausdruck verliehen habe.

 

KELLNER Warum tun Sie das dann nicht?

 

GAST Weil neben meiner Cafétasse ein Keks liegt.

 

KELLNER Ich sage Ihnen mal was: Sie gehn mir langsam auf den Keks.

 

GAST Ich verzichte auf Ihre infantilen Wortspiele, wie ich auf den Keks verzichte. Ich verzichte auch auf den Café, der inzwischen ohnehin nicht mehr heiß ist. Bringen Sie mir also ein Bier. Ein Weizenbier. Ein Kristallweizenbier --- aber bitte mit Zitrone!!!